Grußwort Hilbergs zur geplanten Neuausgabe von Die Vernichtung der europäischen Juden
Das Vorwort vom 15. Mai 1982 begleitete die Erstveröffentlichung dieses Buches in der Bundes-republik, und mit der deutschen Ausgabe gingen die ersten sechs ungekürzten Übersetzungen in andere Sprachen einher. Als der Fischer Taschenbuch Verlag das Werk 1990 übenahm, umfasste es unterdessen eingefügtes Material, doch auch in der Folge stellte ich meine Recherchen nicht ein. Neu eröffnete Archive hinter dem ehemaligen Eisernen Vorhang weckten meine Neugier, und ich suchte mehrere davon auf, um die Sammlungen zu erkunden. In Washington legte das United States Holocaust Memorial Museum zunehmende Mikrofilmbstände an, die ich ebenfalls mit einbezog. Die vorliegende Ausgabe enthält meine inzwischen gemachten Funde. Nach wie vor erhebe ich jedoch keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Mir ging es ausschließlich darum, diese historische Epoche so umfassend und zuverlässig darzustellen, wie das ein einzelner auf der Grundlage von Originalquellen zuwege bringen kann.
Burlington, Vermont, am 19. Juli 2004, Raul Hilberg

Kommentar des Übersetzers (2013)
Dieses lapidare, ja fast schroffe Vorwort veranlasste den damals zuständigen Lektor, Dr. Walter Pehle, das ganze Projekt einer Neuübersetzung von Die Vernichtung der europäischen Juden, an dem vier - wenn man Hilberg selbst einrechnet sogar fünf - Personen fast zwei Jahre lang intensiv gearbeitet hatten, kurzerhand abzublasen. Er befürchtete, das Publikum könne daraus auf eine tiefe Verärgerung des Autors über den S. Fischer Verlag schließen.
Tatsächlich war der Autor "not amused". Bereits 2002 hatte der Verlag beschlossen, zum achtzigsten Geburtstag Hilbergs 2006 eine Neuausgabe des dreibändigen Werks zu besorgen und die Holcaust-Expertin Kathrin Meyer beauftragt, den vorliegenden Text gründlich zu prüfen, alle Namen und Daten zu recherchieren etc. Anfang 2003 erhielt ich den Auftrag, die seit der Yale-Ausgabe verfassten Zusätze Hilbergs in die deutsche Fassung einzuarbeiten. Dabei erschien diese mir auf so gravierende Weise mangelhaft, dass ich eine kostenlose Neuübersetzung des Ganzen anbot. Schließlich wurde meine Arbeit durch ein Stiftungsstipendium großzügig bezahlt.
Neben dem Lektor Pehle redigierte auch der Historiker Dr. Werner Renz vom Fritz-Bauer-Institut meine kapitelweisen Vorlagen. Außerdem wandte ich mich bei Klärungsbedarf stets an Hilberg selbst, mit dem ich in dieser Zeit mehr als hundert Fax-Nachrichten gewechselt habe. (Email lehnte er ab, um nicht "überschwemmt" zu werden.) Ich war immer wieder erstaunt, wie schnell seine Antworten kamen. Er musste für jede Seite eine eigene Registratur angelegt haben.
Die Stimmung war gut, Zuversicht auf allen Seiten, bis ich Hilberg einen Brief mit meiner Neufassung des Kapitels über die Entschädigungsfrage schickte, die für ein Fax zu lang war. In dieser Revision ging es darum, die vom angelsächsischen Rechtsdenken geprägte Darstellung Hilbergs in die Terminologie des deutschen Entschädigungsgesetzes zu übertragen. (Ich bin selbst Jurist.) Als Hilberg danach monatelang schwieg, rief ich ihn an und spürte sofort seine Verstimmung. Er habe selbst an der Law School studiert und brauche von mir keine Belehrung.
Anschließend forderte Hilberg vom Verlag die gesamte Neuübersetzung an, um nicht nur mit Myriaden handschriftlicher Zusätze die alte zu restaurieren, sondern sich auch über mich lustig zu machen. Er verfasste sogar ein Spottgedicht über "den Übersetzer", das Pehle mir genüsslich am Telefon vortrug. Hilberg begann, mich regelrecht zu verfolgen, und als er mit der Diagnose Lungenkrebs seinem Tod entgegensah, sorgte er noch testamentarisch dafür, dass meine Übersetzung nicht erscheinen würde. Zwar konnte er dem Verlag deren Publikation nicht verbieten, aber es genügte, sie völlig unattraktiv zu machen, indem er finanzielle Anreize für das Festhalten an der alten Ausgabe schuf. Selbstver-ständlich war diese Maßnahme, ebenso wie die Ablehnung meiner sachlich richtigen Anpassung der juristischen Begrifflichkeit an die Gesetzeslage, nicht frei von narzisstischen Motiven. Schließlich war Hilberg selbst maßgeblich am Zustandekommen der ersten deutschen Ausgabe mit allen ihren Fehlern beteiligt.
Zur Ehrenrettung des
S. Fischer Verlags sei gesagt, dass es diesem nicht nur ums Geld, sondern auch um die Sache ging: Wer braucht schon im 21. Jahrhundert noch eine solide Hilberg-Ausgabe, nachdem der Wiener "Philosoph" Rudolf Burger bereits an dessen Anfang befunden hatte, fünfzig Jahre Gedenken seien genug? Im Übrigen bürgen ja die Kohlschen Protzstelen den Unersättlichen für eine längere Haltbarkeit.
Bonn, NRW, im April 2013, Hans Günter Holl

 

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